von P. Marc Brüllingen
„In jener Zeit sprach Pilatus zu Jesus: Bist du der König der Juden? Jesus antwortete: Sagst du das aus dir selbst, oder haben es dir andere von mir gesagt? Pilatus erwiderte: Bin ich denn ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überliefert. Was hast du getan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so würden gewiß meine Diener für mich streiten, und ich wäre nicht den Juden ausgeliefert worden. Nun aber ist mein Reich nicht von hier. Da sprach Pilatus zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Ja, ich bin ein König. Dazu bin ich geboren und in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört meine Stimme.“ (Joh 18, 33-37)
Die Worte Jesu enthalten ein Doppeltes. Einmal das Bekenntnis seiner königlichen Größe und seines Reiches, das nicht von dieser Welt ist und darum alle Reiche dieser Welt überragt. Die Worte sind aber auch ein Appell an das Gewissen des Pilatus. Jesus ist gekommen als Zeuge der Wahrheit. Darum steht er zu seinem Königtum, auch wenn es ihn das Leben kostet. Wenn es Pilatus nun wirklich um die Wahrheit zu tun ist, wird er innerlich die Stimme Christi als die Stimme der Wahrheit und damit als Stimme Gottes erkennen.
Aber Pilatus weicht aus mit dem halb skeptischen, halb ironischen Wort: Was ist schon wahr, was ist Wahrheit? Immerhin ist ihm jetzt die Unschuld des Angeklagten eindeutig klar. Er will ihn freigeben. Das Licht leuchtet in der Finsternis. Um aber die Juden einigermaßen zu besänftigen und zu befriedigen, will er ihnen einen Bandenführer, der durch Mord und Totschlag ins Gefängnis gekommen war, freilassen.
Neben dem Königtum Christi von Gott her steht hier der angemaßte Wille zur Macht eines Räubers und Mörders. Allein schon die Gegenüberstellung ist tiefste Demütigung. Aber Jesus ist so groß, daß menschliche Erniedrigung ihn nicht kleiner machen kann. Pilatus ist Vertreter äußerer Macht und Größe, ist aber innerlich ein schwacher und kleiner Mensch. Christus steht in menschlicher Ohnmacht vor ihm, ist aber der innerlich Große und Mächtige.
Die zweite Etappe ist, streng genommen, kein Verhör, sondern eine Mißhandlung Jesu. Pilatus hofft dadurch den Juden Genugtuung leisten zu können. So muß Christus die römische Geißelung ertragen und den Spott, den die Soldateska mit seiner königlichen Größe und Würde treibt. Aber die Mißhandlung verfehlt ihre Wirkung. Obwohl Pilatus nun Jesus in jämmerlichem Zustand dem Volk vorführt, verspürt dieses weder Mitleid noch irgendeine Regung des Gewissens, sondern gibt nur der Stimme des Hasses immer lauter und immer leidenschaftlicher Ausdruck in der Forderung der Kreuzigung.
Und doch steht auch in diesem Abschnitt das Wort: „Ich finde keine Schuld an ihm.“ Jesus spricht kein Wort. Sie wollen gewaltsam das Licht auslöschen. Es leuchtet trotzdem in der Finsternis. Im Schweigen und Dulden zeigt sich hier die seelische Größe Christi. Der körperliche Schmerz der Geißelung und der Dornen ist fast unerträglich. Und doch ist die seelische Qual größer. Sie verspotten sein Königtum. Die Finsternis hat es nicht erfaßt.
Die politische Klage hat bei Pilatus nicht verfangen. So greifen nun die Juden einen neuen Klagepunkt auf: Jesus hat sich zum Sohn Gottes gemacht.
Zwei Gestalten stehen sich gegenüber: Pilatus und Jesus. Pilatus erweist sich immer mehr als schwacher Mensch. Sieben Ausweichversuche unternimmt er. Fünf Unschuldserklärungen formuliert er. Trotzdem verurteilt er dann letztlich Jesus zum Tod. Die Behauptung, Jesus sei Sohn Gottes, weckt in ihm eine abergläubische Furcht. Und der Vorwurf: Du bist kein Freund des Kaisers, wenn du ihn freiläßest, trifft ihn persönlich und weckt die Menschenfurcht. So ist er im Tiefsten ein furchtsamer Charakter, wenn er auch die Furcht durch forsches Auftreten zu verbergen sucht. Ein kleiner Mensch, der in der großen, entscheidenden Stunde seines Lebens völlig versagt.
Jesus ist ganz anders. Er kennt das Ende des Prozesses und steht trotzdem in ruhiger Würde und Gelassenheit vor Pilatus. Er weiß, daß alles nach dem Willen des Vaters geschieht. Und so spricht er zu Pilatus auch furchtlos das Wort: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre.“
(nach: Richard Gutzwiller, Meditationen über Johannes; Benziger Verlag Einsiedeln Zürich Köln, 1958)
Bild: Ikone Christus Pantokrator | Foto: Heike Hannah Lux